70e anniversaire de la libération d'Auschwitz

Reportage sur Gerd KLESTADT par www.revue.lu

Von Vergeben und Vergessen

Im Vorfeld der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz unterhielten wir uns mit Gerd Klestadt. Der 82-Jährige ist einer der wenigen jüdischen Luxemburger KZ-Überlebenden.


Fühlen Sie sich als Jude nach den Attentaten in Paris bedroht?

Lassen Sie es mich so formulieren: Es wird Zeit, dass die junge Generation von Juden Zweifel an ihrer Zukunft in Europa hegt. Wären meine Frau und ich 40 Jahre jünger, würden wir nach Israel ins Exil gehen. Ich kann nachvollziehen, dass im letzten Jahr 7.000 Juden Frankreich den Rücken gekehrt haben und nach Israel gezogen sind. In vielen Ländern ist die jüdische Gemeinschaft gegenüber der moslemischen in der Minderheit. Auch in Luxemburg, wo 15.000 Moslems wohnen. Was mir nicht gefällt, ist, dass es auch bei uns Muslime gibt, die sich radikalisiert haben. Ich halte es in der Hinsicht mit Ahmed Aboutaleb, dem muslimischen Bürgermeister von Rotterdam: „Wer die westliche Freiheit nicht will, soll doch die Koffer packen.“ Man soll den radikalen Muslimen, die Probleme haben mit unserer Kultur und unserer Religion, klar machen, dass hier kein Platz für sie ist.


Wohin mit ihnen?

Nach Afghanistan, nach Syrien, nach Ägypten oder in den Irak. In Luxemburg wird dieses Problem in meinen Augen auf die leichte Schulter genommen. Es wird behauptet, es gäbe in Luxemburg bis zu 100 Salafisten. Die politisch Verantwortlichen wollen jedoch nicht offensiv vorgehen, zumal das Problem besteht, dass man aus juristischer Sicht nicht einfach so einem die Nationalität aberkennen kann. Aber man kann im Gegenzug halt auch nicht jedem „égalité, liberté, fraternité“ gewähren. Immerhin wurden jetzt die Antiterror-Gesetze bei uns verschärft.


Wird die Problematik unterschätzt?

Ja, aber nicht nur bei uns. Auch in Deutschland, in Frankreich und in Belgien. Die, die nach Syrien oder sonst wohin gehen, sollen auch dort bleiben und nicht mehr zurückkommen. Kein Zutritt mehr in das Land, wo sie herkommen. Kein Zutritt mehr in den Schengen-Raum. Was sollen die Inhaber der jüdischen Geschäfte in Luxemburg machen? Die Security vor die Eingangstür stellen? Denn wir Juden waren und sind immer schuld. Weil wir keinen Frieden mit den Arabern schließen können. Ce sont toujours les juifs qui sont les boucs émissaires…


Haben Sie Angst, dass es zu einem Religionskrieg kommt?

Dieser Religionskrieg ist längst im Gange. Und ich kann gut nachvollziehen, dass junge Juden nach Israel ins Exil gehen. Das will jetzt aber nicht heißen, dass ich mit der israelischen Expansionspolitik einverstanden bin. Im Gegenteil. Es ist auch nicht einfach, einen Unterscheid zu machen zwischen Antisemitismus und einer antiisraelischen Haltung. Entweder bin ich für Israel oder dagegen. Aber wenn ich dagegen bin, für was trete ich dann ein? Was wird dann mit Israel?


Zurück nach Frankreich und zu „Charlie Hebdo“…

… ich verurteile dieses Attentat aufs Schärfste. Ich habe mir in dem Zusammenhang die Frage gestellt, wie weit Zeitungen in Luxemburg gehen würden. In Sachen Satire, Blasphemie und Tabubrüche. Was mich allgemein an der Luxemburger Presse stört, ist, dass sie wie das ganze Land dabei ist, zu verdeutschen. Die beiden größten Tageszeitungen erscheinen auf Deutsch, ein Großteil der Wochenpresse auch. Warum werden in der „revue“ nicht regelmäßig Beiträge auf Luxemburgisch publiziert? Probleme haben mir auch die Feierlichkeiten zur „Battle of the Bulge“ bereitet. Ich kann nicht nachvollziehen, dass es jetzt 70 Jahre danach zu einer Art Vergebung mit den Feinden von damals kommt. Ich kann nicht vergessen, was war. Und vergeben schon gar nicht.

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Gerd KLESTADT

Vergessen und Vergeben, das sind zwei gute Stichworte…

Ich habe viele Jahre mit dem Trauma gelebt. Erst 1990 habe ich einen Psychiater aufgesucht. Ich konnte nicht mehr schlafen. Meine Gedanken kreisten ständig um das, was ich in den KZs erlebt hatte. Zehn Jahre lang bin ich ein bis zwei Mal pro Monat nach Holland zu meinem Psychiater gefahren. Dr. Johan Lansen hat mir geholfen, mein Trauma zu überwinden.


Was können Sie nicht vergessen?

Bis März 1943 hatten wir uns vor den Nazis versteckt. Das Versteck wurde verraten und meine Mutter, mein Vater, mein jüngerer Bruder und ich wurden nach Westerbork ins Durchgangslager gesteckt, wo die Juden aus den Niederlanden inhaftiert waren. Vor dem Krieg gab es fast 112.000 Juden in den Niederlanden, nach Kriegsende waren es knapp 10.000. Von Westerbork aus ging es in die Konzentrations- und Vernichtungslager nach Auschwitz, Sobibor, Buchenwald, Bergen-Belsen… Jeden Dienstag fuhr ein Zug nach Osten. Am 31. Januar 1944 wurde uns mitgeteilt, dass wir am Dienstag, den 1. Februar 1944, mit einem Zug in Viehwaggons nach Bergen-Belsen, in der Nähe von Hannover, verfrachtet werden sollten.

Sie waren damals 12 Jahre alt, was ging in Ihnen vor?

Das Schlimmste war, dass keiner wusste, wohin es geht. Es gab keine Kommunikation. Keiner wusste, wo die Lager waren. Keiner wusste, was auf uns zukam. Wenn man vorhat, die Menschen wie Vieh zu behandeln, soll man einfach jegliche Kommunikation unterbinden.


Zurück zu dem Zug nach Bergen-Belsen…

In den Waggons waren wir mit 60 bis 70 anderen Juden zusammengepfercht. Erwachsene, Kinder, Jung und Alt. Auf dem Boden lag ein wenig Stroh. Es standen zwei Fässer drin. In dem einen war Trinkwasser, in dem anderen verrichteten wir unsere Notdurft. Da hat man das verloren, was man „dignité humaine“ nennt. Seine Notdurft verrichten. Vor den Augen aller anderen. Auf diesem Fass. Und auf dem Boden lagen die ersten Leichen… Am Bahnhof in Bergen angekommen, ging es sechs Kilometer zu Fuß ins Lager Bergen-Belsen. Die, die keine Kraft mehr hatten, wurden von Soldaten oder SS-Leuten in eine bessere Welt verabschiedet.


Wie sind Sie damit umgegangen?

Wie unter Hypnose. Wir gingen, konzentrierten uns darauf, nicht hinzufallen. Die Eltern kümmerten sich um die Kinder. Ich war für mein Alter groß gewachsen und kam zusammen mit meinem Vater ins Männerlager. Meine Mutter und mein kleiner Bruder ins Frauenlager. Ab da hatten wir nur noch Sichtkontakt zueinander. Mein Vater musste schwere Feldarbeit verrichten. Meine Mutter war nun zuständig für das Putzkommando der Hauptlatrine. Und ich habe Schuhe auseinandergenommen. Später habe ich erfahren, dass die Schuhe von Menschen stammten, die man in den Vernichtungslagern vergast hatte.


Wie verhält man sich in so einer Situation?

Man versucht mit allen Mitteln zu überleben. Aber die Ernährung war fürchterlich: morgens ein Stück Brot mit einer Art Butter. Abends eine dünne Suppe mit Fleisch, wobei man dieses „Fleisch“ nicht identifizieren konnte. Abends haben mein Vater und ich dann immer eng aneinander gelegen, auf einer Pritsche, zugedeckt mit zwei Decken, sozusagen „body to body“. Einer hat den anderen gewärmt. Eines Morgens, es war am 4. Februar 1945, wollte ich ihn wecken, da war er tot. Ab da war ich alleine. Als 13-Jähriger in einem Lager, wo tagtäglich 600 Menschen starben. Wegen Entkräftung, Krankheiten – hauptsächlich Typhus – und Unterernährung.


Das Lager Bergen-Belsen wurde am 15. April 1945 befreit…

… die Engländer sind auf das Lager gestoßen, weil man den Verwesungsgeruch kilometerweit gerochen hat. Es gab in Bergen-Belsen kein Krematorium mehr und auch keinen Platz mehr in den Massengräbern. Zehntausende Leichen verwesten unter freiem Himmel. Als das Lager befreit wurde, waren meine Mutter, mein Bruder und ich nicht mehr da. Man hatte uns wieder in einen Zug mit Viehwaggons gesteckt. Die 2.000 Zeugen in diesem Zug sollten vernichtet werden. Durch die Kriegswirren fuhr der Zug aber planlos umher und blieb irgendwann stehen, weil ihm die Kohle ausgegangen war. Ein amerikanischer Panzerkommandant namens Frank Towers befreite uns aus dem Zug in der Nähe von Farsleben.

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Gerd Klestadt: „In den Wagons waren wir mit 60 bis 70 anderen Juden zusammengepfercht. Es standen zwei Fässer drin. In dem einen war Trinkwasser, in dem anderen verrichteten wir unsere Notdurft.“

Und dann?

Wir waren frei und kamen in ein Erholungslager für SS-Leute im deutschen Hillersleben. Ich wurde angeschossen und kam ins Krankenhaus. Meine Mutter und mein Bruder wurden zurück nach Holland gebracht. Man schickte die Leute dorthin zurück, wo sie herkamen. So war das damals. Nach meiner Genesung wurde auch ich später zurück nach Holland gebracht. Wir fanden uns wieder in einem Kloster in der Nähe von Maastricht. Das Leben nahm nach und nach wieder seinen normalen Lauf. Ich ging zur Schule, machte mein Abitur und studierte Landwirtschaft. Dann zog ich in die weite Welt hinaus und arbeitete in Israel, Nord- und Zentralamerika sowie 15 Jahre lang in Südafrika. Dort lernte ich auch meine Ehefrau Charlene kennen. Sie war stark in der Anti-Apartheit-Bewegung engagiert. Wir verließen deshalb Südafrika und ließen uns in Luxemburg nieder.

 

Warum Luxemburg?

Weil es klein und übersichtlich war und ich hier einige Leute kannte, wie z.B. den damaligen Wirtschaftsminister Marcel Mart. Meine Mitgliedschaft bei der „Table ronde“ öffnete ebenfalls Türen, speziell weil man sich ja dann sofort duzt. Ça c’est mon histoire. Meine Geschichte, oder besser „le devoir de ma mémoire“, habe ich in den letzten 14 Jahren in den Luxemburger Schulen erzählt. Vor mehr als 14.000 Schülern. Die Idee hierfür hatte der Historiker und Geschichtslehrer Steve Kayser (Anm. der Red.: Steve Kayser ist Direktor des Centre de Documentation et de Rercherche sur l’Enrôlement forcé in Hollerich und Haushistoriker der „revue“) im Jahr 2000, als er mich bat, im Rahmen des Projektes „Contre l’oubli“ meine Geschichte zu erzählen. Am Anfang war das sehr schwierig. Ich hatte meine Emotionen nicht im Griff und habe geweint vor den Schülern. Wenn meine Frau nicht da gewesen wäre, die meine große Stütze war und ist, hätte ich wahrscheinlich nicht weitergemacht. Im Schnitt besuchen 1.200 Schüler jeweils ein Lyzeum. Und in Bergen-Belsen starben im Schnitt 600 Menschen pro Tag. Nach zwei Tagen wäre die Schule leer gewesen…

 

Wir haben vom Vergessen geredet – was ist mit dem Vergeben?

Vergeben kann ich nicht. Es ist nicht möglich. Ich kann nicht mit ehemaligen Wächtern an einem Tisch sitzen und sagen, „ja, auch ihr habt eine schwere Zeit durchgemacht“. Die einzigen, die das machen könnten, sind die Toten aus den Vernichtungslagern. Aus Auschwitz, aus Sobibor, aus Buchenwald… ich kann nicht vergeben und sehe auch nicht ein, warum. Damit ist das Thema auch für mich erledigt.

 

„Da hat man das verloren, was man ‚dignité humaine’ nennt.“ Gerd Klestadt

 

Welche Verantwortung haben die Schüler?

Ich habe Angst, dass die Themen Zweiter Weltkrieg und Holocaust mehr und mehr in Vergessenheit geraten. In Deutschland wissen laut einer Studie der Uni Potsdam 33 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren nichts mit Auschwitz anzufangen. Das ist mehr als bedenklich. In den Schulen, auch hierzulande, wird das Thema zu wenig aufgegriffen. Einen Unterschied zwischen deutschen und luxemburgischen Schülern habe ich jedoch festgestellt. Die deutschen Schüler haben Schuldgefühle, wegen dem, was ihre Vorfahren gemacht haben. In Luxemburg ist dieses Gefühl nicht vorhanden. Ohnehin ist der Zweite Weltkrieg hierzulande nach wie vor ein Tabuthema. Und überhaupt wird stets alles so dargestellt, als wäre jeder Resistenzler und damit gegen die Nazis gewesen. Das war aber nicht der Fall! Ich habe jedenfalls noch nie erlebt, dass ein Luxemburger sich dazu bekannt hätte, im Krieg Schlimmes gemacht zu haben und zuzugeben, sich für die falsche Seite, um es mal so zu formulieren, entschieden gehabt zu haben.

 

Warum wird hierzulande keine richtige Vergangenheitsbewältigung gemacht?

Das hat sicherlich damit zu tun, dass das Land so klein ist. Nach dem Krieg haben jene die Arbeit wieder aufgenommen, die zuvor in der Verwaltung des Dritten Reiches gearbeitet haben. Das war halt damals so. Es gab nicht viele Alternativen. Da gab es beispielsweise auch einen Richter am Europäischen Gerichtshof, der im Krieg auf der Seite der Nazis stand. Entschuldigt für die Verbrechen, die die Luxemburger an der jüdischen Gemeinschaft begangen haben, hat sich auch noch keiner. Bis auf Roberto Traversini, der Bürgermeister von Differdingen. Für die Differdinger Juden, die man ins KZ deportiert hat. Sein „mea culpa“ im November letzten Jahres war eine sehr, sehr starke Geste. Das war außergewöhnlich, und ich hätte mir dasselbe zuvor von Jean-Claude Juncker gewünscht. Dazu kam es aber nicht, obwohl man es ihm oft empfohlen hat. Leider…

 

„Ich habe Angst, dass die Themen Zweiter Weltkrieg und Holocaust mehr und mehr in Vergessenheit geraten.“ Gerd Klestadt

 

Nun stehen am 27. Januar die Gedenkfeiern in Auschwitz im Rahmen der Befreiung vor 70 Jahren und des weltweiten Holocaust-Gedenktages an. Mit welchen Gefühlen reisen Sie dahin?

Ich war noch nie in Auschwitz. Es hat mich auch eine Menge Überwindung gekostet, jetzt am 27. Januar mit der offiziellen Delegation dorthin zu reisen. Auschwitz ist für mich ein gewisser Voyeurismus. In Bergen-Belsen gibt es nur wenig zu sehen, außer der Gedenkstätte und einem Museum, weil die Engländer nach der Befreiung aufgrund der Typhusgefahr alles niederbrannten. In Auschwitz ist das völlig anders. Auschwitz steht als Symbol für das Böse im Menschen. Und für die 1,5 Millionen Juden, die dort umgebracht wurden, darunter viele Jugendliche und Kinder, und fast die gesamte jüdische Bevölkerung, die damals in Luxemburg von den Nazis verschleppt wurde. Deshalb fahre ich dahin. Und aus Respekt vor dem weltweiten Gedenken. Natürlich ist es für mich auch eine große Ehre, dieser Zeremonie gemeinsam mit dem erbgroßherzoglichen Paar und unserem Premierminister Xavier Bettel beizuwohnen. C’est tout.

Zur Person Gerd KLESTADT

Kommt am 23. Dezember 1932 in Düsseldorf als erster Sohn des Ehepaares Berthold Klestadt und Ruth Grünthal zur Welt. 1936 flüchtet die Familie vor dem aufkommenden Naziterror in die benachbarten Niederlande. Erster Wohnort bis 1940 ist Scheveningen. Nach dem Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940 muss die Familie von der Küste ins Inland nach Baaren, 35 Kilometer östlich von Amsterdam, umziehen. Bis kurz vor ihrer Verhaftung am 1. März 1943 ist die Familie in einem Versteck in einem Privathaus in einem Nachbarort untergebracht. Nach der Verhaftung kommen Westerbork und Bergen-Belsen. Mitte 1945 zurück nach Baaren, besucht Gerd Klestadt erst die Primärschule, macht dann 1952 Abitur und studiert anschließend Agrarwissenschaft in Holland und Israel. Seine berufliche Karriere fängt Mitte der 50er in den USA und Zentralamerika (Honduras) an. Danach geht er nach Südafrika, wo er 15 Jahre lang lebt. Seit 1973 wohnt und arbeitet Gerd Klestadt mit seiner Ehefrau in Luxemburg. 1987 wird die Familie naturalisiert und hat seitdem die Luxemburger Staatsangehörigkeit. Klestadt ist Mitglied der liberal-jüdischen Gemeinde in Esch/Alzette und setzt sich bei den Jugendlichen dafür ein, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät.